Am 04. Dezember 2024 stellten die sächsische Union und die SPD Sachsen den Koalitionsvertrag ihrer amtierenden Minderheitsregierung für die Legislatur 2024-2029 im sächsischen Landtag vor. Der Leitgedanke des Papiers lautet „Mutig neue Wege gehen. In Verantwortung für Sachsen.“ Diese Maxime, Mut zu beweisen und Verantwortung zu übernehmen, lässt sich passgenau auf einen dringend benötigten, politisch weitsichtigen Umgang mit den derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen rund um die Themen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, Queerfeindlichkeit und Rechtsextremismus übertragen. Wir fordern von der neuen Koalition, sich mit ebenjenem Mut den Bedarfen von lsbtiq* Personen in Sachsen anzunehmen, sowie die Verantwortung dafür zu tragen, dass alle Bürger*innen in Sachsen, d.h. auch queere Menschen, würdevoll leben können. „Mutig neue Wege gehen. In Verantwortung für Sachsen.“ – ein Leitgedanke, auf dessen Basis wir die neue sächsische Regierung in die Pflicht nehmen möchten.
Leider stellen wir fest, dass der neue Koalitionsvertrag wenig konkrete Maßnahmen nennt, die helfen würden, die Lebenssituation von lsbtiq* Personen in Sachsen maßgeblich zu verbessern. Das Papier spricht damit eher für eine regressive Fortführung des Status Quo, statt einen progressiven Fortschrittspakt zu wagen. Dennoch weist der Koalitionsvertrag Punkte auf, die wir sehr begrüßen.
Allem voran ist zu betonen, dass die neue Landesregierung die in der letzten Legislatur nicht gelungene Weiterentwicklung des bestehenden Landesaktionsplans zur Akzeptanz der Vielfalt von Lebensentwürfen (2017) vorantreiben und finalisieren, sowie für ausreichende Beratungs- und Unterstützungsangebote im Vielfaltsbereich sorgen möchte. Der hohe und ständig wachsende Bedarf daran ist nicht zuletzt an den langen Wartezeiten für Bildungs- und Beratungsangebote ablesbar. Gegen einen möglichen Abbau verwehren wir uns.
Auch bekennt sich die Koalition zu einer querschnittartigen, modernen Gleichstellungspolitik, die die Vielfalt von Lebensentwürfen berücksichtigt und Benachteiligungen abbauen will. Auf Basis dessen erhoffen wir uns eine Politik, die die Themen Gleichstellung sowie sexuelle und geschlechtliche Vielfalt intersektional mitdenkt. Vor dem Hintergrund des bisher Erreichten, würden wir jegliches Dahinter-Zurückbleiben als schweren Rückschritt erachten.
Für den Bereich Vielfalt und Antidiskriminierung soll es zudem sachsenweit in den Staatsanwaltschaften direkte Ansprechpersonen für Betroffene sowie Zeug*innen vorurteilsmotivierter Hasskriminalität geben. Dies weiterzuführen und auf alle sächsischen Staatsanwaltschaften auszuweiten, begrüßen wir sehr.
Darüber hinaus will die Landesregierung im Bereich Gewaltschutz die Istanbul-Konvention auf Basis des Landesaktionsplans des Freistaats zur Verhütung und Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt umsetzen. Wir werden diesen Prozess mit anderen Selbstvertretungsorganisationen begleiten und für die Einbindung einer intersektionalen, queeren Perspektive sorgen.
Die Förderrichtlinie Weltoffenes Sachsen (WOS) soll weiter unterstützt und die Projektfinanzierung vielfältiger politischer Bildungsangebote in allen gesellschaftlichen Bereichen fortgesetzt werden. Gleichzeitig ist es den koalierenden Parteien aber nicht gelungen, ein stabiles Förderkonstrukt für die immer wieder von Mittelverlust im WOS betroffene queere Bildungsarbeit in Sachsen zu schaffen. Eine Festsetzung langfristiger finanzieller Absicherung wäre hier ein Zeichen aufrechter Wertschätzung dieser so wichtigen demokratiestärkenden Projekte gewesen.
Wir halten fest, dass über die genannten Aspekte hinaus weitere Politikfelder im Koalitionsvertrag behandelt werden, in denen sexuelle und geschlechtliche Vielfalt nicht explizit benannt wird, diese unserer Einschätzung nach jedoch querschnittartig Anknüpfungspunkte für die Akzeptanz und gleichberechtigte Teilhabe von lsbtiq* Personen in der sächsischen Gesellschaft innehaben sollten. Dabei handelt es sich insbesondere um die Bereiche Bildung, Soziales, Kultur und Gesellschaft.
Auffällig ist, dass die Regierung insbesondere in den Bereichen Bildung und Soziales auf Inklusion setzt, was wir sehr befürworten. Dennoch wollen wir bekräftigen, dass wir hierbei in Anlehnung an die Salamanca-Erklärung der UNESCO einen weiten Inklusionsbegriff einfordern – also einen Inklusionsgedanken der weitere Heterogenitätsdimension wie z. B. Behinderungen, soziale Herkunft, Rassifizierungen, Alter, sexuelle Orientierungen und Geschlechter miteinschließt. Inklusion sollte gerade in pädagogischen Settings im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention allen Kindern ein Höchstmaß an individueller Unterstützung, Förderung und Teilhabe ermöglichen, unabhängig davon, ob sie körperlich oder psychisch beeinträchtigt oder hochbegabt sind, ob sie einer anderen Kultur oder Religion angehören oder sonstige Merkmale aufweisen. Wir möchten daher die amtierende Koalition beim Wort nehmen, wenn sie von allen Kindern und Jugendlichen, allen Familien oder allen sächsischen Bürger*innen spricht.
Ferner möchte die Koalition dafür Sorge tragen, dass in Sachsen alle Familienformen Akzeptanz, Unterstützung und Förderung finden und deren sozialen Lebensräume gewahrt werden. Die sächsische Familienförderung und -beratung sollte in Fragen sexueller, geschlechtlicher und familiärer Vielfalt ausgebaut und die Kinder- und Jugendhilfe gestärkt werden. Wir fordern, dass queere Familienkonstellationen endlich gleichgestellt sowie queere Kinder und Jugendliche wirksam vor Diskriminierung und (sexualisierter) Gewalt geschützt werden.
Im Bereich der Pflege betont der Koalitionsvertrag die Bedeutung von Respekt und guten Rahmenbedingungen für ein finanzierbares und abgesichertes Leben im Alter. Dass sich ältere queere Menschen (nicht nur in Sachsen) bei Eintritt in die Pflege ein diskriminierungsfreies Wohn- und Betreuungssetting wünschen, ist inzwischen hinlänglich durch Studien belegt und in Fachdiskurse integriert worden. Wir wünschen uns hier mehr Impulse der Landesregierung und mehr Mut in der Trägerlandschaft, diese Angebote endlich bereitzustellen.
Die psychische Gesundheit junger Menschen soll in den Blick genommen und sektorübergreifend geeignete Maßnahmen zur Gesundheitsprävention entwickelt werden. Dazu muss auch der Erhalt und Ausbau von Anlaufstellen und Beratungsangeboten für junge queere Menschen gehören. Denn internationale Forschungsergebnisse belegen, dass sich Stigmatisierungen, Diskriminierung und (gewaltvolle) Anfeindungen negativ auf die Gesundheit von lsbtiq* Personen auswirken. Daraus resultiert ein erhöhtes Risiko für suizidales Verhalten queerer Menschen, was innerhalb der Suizidprävention unbedingt berücksichtigt werden muss.
Inklusion und Integration sollen den koalierenden Parteien zufolge in sächsischen Sportverbänden gefördert werden. Dies gelingt aber nur, wenn der Vereinssport zu einem sicher(er)en Ort für lsbtiq* Menschen wird. Wir fordern hier die Bereitstellung von Mitteln für spezifische Bildungsprojekte und Sensibilisierungsmaßnahmen.
Die Koalition will die Demokratiearbeit stärken und ein Gesamtkonzept für die politische Bildung erstellen, welches die derzeitigen gesellschaftlichen Herausforderungen adressiert und einen breit gefächerten Bildungsansatz verfolgt. Darüber hinaus soll das sächsische Gesamtkonzept gegen Rechtsextremismus der letzten Jahre umgesetzt werden. Die Bekämpfung gruppenbezogener menschenfeindlicher Haltungen in unserer Gesellschaft darf jedoch nicht ohne Beachtung von Queerfeindlichkeit geschehen. Bis dato fehlt uns hier aber noch ein echtes Bekenntnis der Landesregierung. Wir fordern daher in beiden Papieren eine gleichwertige Verankerung queerer Bedarfe.
Hohen Bedarf der Einbindung queerer Lebensrealitäten sehen wir zudem im Bereich Asyl und Migration. Auch in vermeintlich sicheren Herkunftsländern droht lsbtiq* Personen Gewalt und Kriminalisierung. Dies muss bei der angestrebten beschleunigten Abwicklung von Asylanträgen und Abschiebeverfahren im Freistaat dringend berücksichtigt werden. Ferner müssen angemessene Konzepte zur Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen erhalten und beständig weiterentwickelt werden, da lsbtiq* Geflüchtete einem besonderen Schutzbedarf unterliegen. Dem muss die Landesregierung auch durch die Absicherung der Beratungs-, Integrations- und Unterstützungsangebote für queere Geflüchtete gerecht werden.
Die Grundlage der Weiterführungen unserer erfolgreichen Arbeit für die bereits laufende Legislaturperiode ist vor allem eines: eine langfristige und abgesicherte Finanzierung. Genau darum müssen sich queere Strukturen in Sachsen aber auch weiterhin sorgen, soll es laut Koalitionsvertrag doch zu einer neuen förderrechtlichen Priorisierung und zur Beendigung von Förderprogrammen kommen.
In seiner Gesamtheit bewerten wir den vorgelegten Koalitionsvertrag als deutlich zurückhaltender ausgestattet als das Papier der vorherigen Regierung. Um eine tatsächliche Verbesserung für die Lebenssituationen von queeren Menschen in Sachsen zu erreichen, fehlen ihm konkrete Bekenntnisse, Maßnahmen und finanzielle Unterfütterungen. Hier werden wir an Legislative und Exekutive appellieren, keine Rückschritte in Kauf zu nehmen, die den Freistaat in einen Zustand vor 2017 katapultieren.
Es ist zu befürchten, dass die nun bestehende Regierung den Bedarfen von lsbtiq* Personen in Sachsen nicht ausreichend gerecht werden wird. Wir rechnen für die kommenden Jahre neben einer zu geringen Berücksichtigung der Lebenslagen queerer Menschen mit einschneidenden Kürzungen staatlicher Fördermittel im Gleichstellungs-, Vielfalts- und Antidiskriminierungsbereich. Ministerpräsident Kretschmer hat bereits angekündigt, dass es im künftigen Doppelhaushalt in allen Bereichen zu Kürzungen kommen wird.
Auch das neue Kräfteverhältnis im Sächsischen Landtag mit einer Minderheitsregierung, die bei jeder Entscheidung um eine Mehrheit ringen muss, erschwert unsere Arbeit für die Gleichstellung von lsbtiq* Personen im Freistaat enorm.
Gemeinsam mit unseren Mitgliedervereinen appellieren wir daher an alle Parteien, die über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen zur Verwirklichung von Gleichwertigkeit, gleichen Rechten und gleichberechtigter Teilhabe von lsbtiq* Personen in Sachsen zu schützen und weiter zu fördern. Genau dafür braucht es das im Koalitionsvertrag zugesicherte hohe Maß an Mut und Verantwortung. Wir bieten der neuen Staatsregierung und allen Ministerien dafür auch weiterhin unsere Expertisen und Kompetenzen sowie fachliche Unterstützung und Zusammenarbeit an.